Was ist Antisemitismus? Der Versuch einer Definition.

In meiner Publikation „Über Opfer, Täter und jene dazwischen. Wie Antisemitismus die Zweite Republik mitbegründete“ habe ich, aus rein politikwissenschaftlicher Sicht, versucht, eine Definition des Phänomens „Antisemitismus“ zu erarbeiten. Mein Vorschlag beruht zentral auf der Frage, wie dieser Ismus einzuordnen ist und wie die, durch ihn erzeugte Ausgrenzung des „imaginären Kollektivs“ der Juden und Jüdinnen begriffen werden muss.


von BARBARA SERLOTH

Was ist Antisemitismus?

 

Ausgehend von der Annahme, dass das politische System der Demokratie die Verwirklichung der Idee der Selbstregierung der Gleichen ist und die demokratische Gesellschaft daher eine von Gleichen unter Gleichen darstellt, wurde diese Frage auf der Grundlage der These, der Verweigerung, Juden zum einen als selbstverständlich politisch handelnde Subjekte und zum anderen als gleichberechtigte Partner, eben als Gleiche unter Gleichen, zu verstehen, behandelt. Damit greife ich auf Michael Walzers Ausführungen über die Verweigerung der Staatlichkeit gegenüber Juden zurück. Diese Verweigerung bedeutet in einer nationalstaatlichen Weltordnung die Ablehnung des Inbegriffs von handelnden politischen Subjekten, die sich zu einem souveränen Staat zusammenschließen. Da der Staat nur der Ausdruck der völkerrechtlichen Souveränität ist, muss die Versagung bereits beim Individuum ansetzen. Es wird nicht als Gleicher unter Gleichen aufgefasst bzw. akzeptiert.

Antisemitismus ist daher nicht nur die latente bis gelebte Bereitschaft einer mehr oder weniger gewaltbereiten Ausgrenzung und Diskriminierung, sondern auch die prinzipielle Verweigerung, Juden als selbstverständlich politisch handelnde Subjekte innerhalb der Gemeinschaft der Gleichen (national oder global) zu sehen.

 

 

Ist Antisemitismus eine Ideologie? 

 

 Der Ansicht, dass Antisemitismus für sich eine Ideologie sei, widerspreche ich. Ich schlage vor, ihn als einen Ismus aufzufassen, „der eingebettet in andere Gesellschaftskonzepte, politische Konstrukte sich „entfaltete“ und diese in seinem Sinn verändert. Für sich alleine gesehen ist er „bloß“ eine mehr oder weniger radikale, mehr oder weniger vernunftverweigernde, mehr oder weniger gewaltbereite und gewalttätige Diffamierung und Diskriminierung einer Minderheit, der Individualität und Gleichberechtigung grundlegend abgesprochen wird. Antisemitismus tritt allerdings nie für sich alleine auf. Ein Antisemit ist zuallererst ein Konservativer, ein Sozialist, ein Sozialdemokrat, ein Kommunist, ein „Rechter“ oder auch ein Christ oder ein Moslem. Daraus ergibt sich, dass er immer eine „Ergänzung“ zu einem Gesellschafts- und Politikkonzept bleibt. Die Geschichte zeigte leidvoll, dass dies durchaus nicht mit einer marginalen Rolle verbunden sein muss. Antisemitismus kann zum Zentrum einer Ideologie oder eines politischen Systems werden oder es „ergänzen“. Je anti-individualistischer ein Konzept ist, desto bessere „Vorbedingungen“ gibt es. Allerdings gibt es kein politisches System, in dem er sich nicht einzubetten vermag. Er verschmilzt mit den politischen Konzepten und Systemen und rundet sie negativ ab. 

Wie er sich politisch platziert oder platzieren kann, ist daher grundsätzlich eine Frage des politischen und gesellschaftlichen Systems, der politischen Kultur eines Landes und letztlich auch eine Frage seiner politischen Instrumentalisierung durch einzelne Gruppen, politische Parteien und ihre Politiker und Politikerinnen oder auch die jeweiligen Regierungen. Für den nachnazistischen Antisemitismus gilt zudem, dass er immer auch als Tabubruch (gegenüber der Latenz) auftritt und daher eine – für die vornazistischen Antisemitismen nicht notwendige – Legitimierung erfahren muss. Der Tabubruch wurde auch im vornazistischen, modernen Antisemitismus gerne angewandt, musste sich allerdings sprachlich weniger „einengen“ und weniger angepasst geben. Die Zielsetzungen sind ähnliche: Zum einen wird durch die Instrumentalisierung des Antisemitismus ein Tabubruch gesetzt, der als Zeichen der Revolution gegenüber den herrschenden Eliten und für das Eintreten für ein anderes politisches System und/oder für das Eintreten für sozial schwache Bevölkerungsgruppen inszeniert wird. Dies ist bei den unterschiedlichen Antikapitalismuskritiken genauso zu beobachten wie bei Ablehnungen des demokratischen Systems. Zum anderen kann in Zeiten sozial-finanzieller Anspannungen und Notlagen die Aufmerksamkeit vom Handlungs- und Entscheidungsfeld abgewandt und auf ein imaginäres Kollektiv gelenkt werden, dem unterstellt wird, die Situation durch egoistisches Verhalten zumindest zu verstärken.